Liesls Eldorado – Leseprobe

Auszug aus dem ersten Kapitel „Liesls Eldorado“.

Amerika Machen

„Komisch, ich muss gerade an Pablo Neruda denken. Ihr wisst ja, der gerade den Nobelpreis für Literatur gekriegt hat. Neruda ist ein Chilene und hat Poeme zu allem Möglichen verfasst. Zur Liebe, zur Zwiebel und zur Kartoffel. Das haben die Kinder aus der Schule mitgebracht. Die Kartoffel, sagt Neruda, die hieße papa und eben nicht patata, wie die Spanier zur Kartoffel sagen. Schließlich sind wir in Südamerika keine Spanier, eher schon eine Mischung aus Verschiedenem.“

Liesl sitzt im Kreise ihrer Geschwister, die sie nach dreißig Jahren zum ersten Mal wiedersieht. Hier, in der alten Heimat, fällt es ihr manchmal schwer, die deutschen Begriffe für Wörter zu finden, die ihr im mittlerweile so vertrauten argentinischen Spanisch einfallen.
Sie erinnert sich zurück und ordnet ihre Lebensgeschichte. Ihre Brüder und Schwester bedrängen sie, weil sie wissen wollen, was sie alles erlebt hat. Liesl will ihre Welten, die von damals, und die, aus der sie gerade hier angekommen ist, miteinander in Einklang bringen.
„Indios gehören bei uns im Norden ebenso dazu wie die Einwanderer mit europäischen Wurzeln. Mir hat immer sein Poem, das er zur Liebe aufgeschrieben hat, so arg gefallen. Das geht so, „Es tan corto el amor y tan largo el olvido“. Ja, so ist es mit der Liebe, so habe ich es immer gespürt. Es ist, wie Pablo sagt: Kurz ist die Liebe und lange das Vergessen. Ach Gott.“
Dann erinnert sich Liesl, wie es in den 30ern war. Sie war so jung und so verliebt gewesen. Pläne hatten sie, und was für welche! Wenig Geld besaßen sie, aber was sie hatten, das war die Liebe, und viel Hoffnung hatten sie auch. Vermutlich war Liesl verliebter als ihr Verlobter, wer weiß? Geplant hatten sie ihre Abreise nach Argentinien, sie wollten weg von daheim.
Bis zu ihrer Ankunft dort ist dann doch noch so viel passiert. Drüben bekam Liesl ihre Kinder. Das war keine Zeit der Poeme, sondern die der Pomadas, der Salben. Aber, wie hat es damals eigentlich angefangen? Die Leute redeten in den 1920ern und Anfang der 1930er viel von Amerika. ‚Amerika machen‘, das war ein geflügeltes Wort. Aber nach Amerika, nach New York zu kommen, das war schwierig geworden.
Baptist und Liesl hatten damals Geschichten über Leute gehört, die auf der Insel vor New York hängen blieben und gezwungen waren, zurückzukehren. Lateinamerika war deutlich besser. Nein, wenn sie es sich jetzt so überlegte, damals in Deutschland hatten sie das Wort Lateinamerika gar nicht gekannt.

Drüben in Misiones, im Norden von Argentinien, wo Liesl dann später lebte, da hat man Latinoamerica oder America Latina gesagt. Daheim in Deutschland, da war Südamerika im Sprachgebrauch. Auch die Reederei, mit der die meisten Auswanderer um diese Zeit von Deutschland abgereist sind, hieß Südamerikanische Dampfschifffahrts-Gesellschaft erinnerte sie sich.
Das war ein großes Unternehmen in Deutschland und existierte damals schon über sechzig Jahre. Liesl und viele andere wurden von diesem gut über den Ozean gebracht. Südamerika hatten sie gesagt, und an Argentinien dachten sie und träumten von der neuen, ihrer künftigen Welt. Sie sahen sich auf Pferden durchs Land reiten und reimten sich allerhand davon zusammen, wie ihr Leben sein sollte.
Viel Land mit großen Ackerflächen wünschten sie sich zu besitzen. Als Pioniere wollten sie den Urwald roden und daraus Felder für sich machen. Ohne den Baptist wäre sie nicht auf die Idee gekommen. Mit ihm, mit dem Vinzenz Baptist Ulrich, so hieß er mit vollem Namen, geboren am 27.März 1907, hatte sie sich, ehe er abreiste, verlobt.
Jemand aus dem Familienkreis am Tisch erwähnt noch, dass dieser Baptist mit seinem Knickerbocker-Anzug ganz gut ausgesehen habe. Wirklich „schmuck“ wäre er damals gewesen. Daran konnten sich die Geschwister noch gut erinnern. Sie hatten ihn alle gekannt. Inzwischen, 1978 ist es, als sie hier so zusammensitzen, ist er schon gut zwanzig Jahre tot.
„Wir wollten unsere Pläne gemeinsam umsetzen. Und dass uns das alles gelingen würde, das haben wir gehofft. Wir waren überzeugt es würde gelingen, wenn wir es nur wirklich wollten und geschickt angingen,“ sagt Liesl.
Baptist war mehr herumgekommen als Liesl. Zumindest hat er mit vielen Leuten geredet. Er war Handwerker, Schreiner, hat am Bau da und dort geschafft. In Bamberg hat er gearbeitet, in Schweinfurt, in Würzburg und anderswo. Er war der Erste, der Liesl die Idee mit Argentinien zugetragen hat. Er erzählte von Flugblättern, die er gesehen habe. Das hatte ihr gefallen.
Dort, im fernen Südamerika, so berichtete er, da wäre Vieles anders, grundverschieden von hier, und es wäre einfach besser dort. Er erklärte, es würde günstig Land verkauft. „Dort kriegst du Land für billiges Geld. Malochen musst du hier wie dort. Anstrengend ist die Arbeit wie hier“, so hatte er geredet. Und sie wüssten doch, wie der Hase läuft, sie verstünden es beide, ordentlich zuzupacken und wären ganz und gar nicht auf der Brennsuppe daher geschwommen.
Wenn zwei zusammen anzupacken wissen, dann kriegen die das hin. So hatten die beiden damals geredet. In Argentinien war es zentrale Aufgabe der Politik das Land zu bevölkern. In der Kurzfassung lautete der Wahlspruch gobernar es poblar, regieren heißt bevölkern.
Deshalb agierten zu dieser Zeit spezielle Agenturen, deren Geschäft die Besiedlung des riesigen Landes war. Sie holten die Zuwanderer herein. An Land fehlte es nicht. Die Anwerber und Agenten durchquerten Europa von oben nach unten und von Ost nach West. Baptist hatte diese Leute zuerst getroffen und von ihnen erfahren, wie man leicht rüberkommt, wie man ‚Amerika macht‘.
Die Werber versprachen, was die Leute hören wollten. Und sie gewannen viele Kunden hier, wie anderswo im Reich, indem sie zusicherten, dass es drüben allen besser ginge. Sie erzählten, sie hätten es selbst mit eigenen Augen gesehen. In Argentinien gäbe es genug Arbeit für alle, die ankommen.
Zu essen gäbe es im Übermaß. Fleisch könnte dort jeden Tag gegessen werden. In Zeiten des erzwungen Vegetarismus, war das eine Ansage. Selbst für die Kinder wäre Fleisch vorhanden, weiter auch Kartoffeln, Gemüse, Milch und Brot. Vorbei wäre es mit dem Mangel, der hier zu erleiden sei.
Die Leute verstanden die Botschaft, ihnen wurde ein auskömmliches Leben in Freiheit versprochen. Was will ein Mensch schon mehr? Die Werber drängten die Menschen, sich zügig zu entscheiden, denn die guten Äcker wären rasch verkauft. Ein Jeder müsse sich beeilen, um von den noch billigen Flächen kaufen zu können. Leicht nachvollziehbar malten sie ihren potentiellen Kunden aus, was geschehen würde: Wenn die Nachfrage nach Land groß ist, dann steigen auch die Preise, dann wird der zu erwerbende Grund teurer. Also hieß es rasch zuzugreifen!
Erwähnt wurde von den Landverkäufern, dass es ein Glück wäre, jetzt noch in der nordöstlichen Region, zwischen den Flüssen im Norden, also in Corrientes, Misiones und Entre Rios, Land zu erwerben, denn dieses argentinische Gebiet entwickelte sich noch weniger intensiv, was jetzt die große Chance wäre. Und der Kauf dort wäre allemal besser als in anderen Gebieten.
Denn in der Pampa etwa gäbe es ein Pachtsystem, was bedeutete, die Pächter erhielten Land (Chacra) zur Bearbeitung nur unter bestimmten Auflagen. Die Pächter müssten ihr Land dort unter Vorgaben bestellen, und es nach einigen Jahren an ihre Verpächter zurückgeben und andere Flächen pachten und kultivieren. Im Vergleich dazu wäre der Landkauf im Norden des Landes doch allemal vernünftiger.
Liesl und Baptist fuhren dann einmal zusammen hinüber in den nahen Steigerwald. Dort lebte eine Familie, aus deren Verwandtschaft zwei Brüder nach Südamerika weggegangen waren. Sie redeten mit den Leuten, hörten zu, was sie erzählten, erfuhren, wie schwer sich der Abschied von der Heimat gestalten kann.
Selbst Schulden haben sie noch aufgenommen, bei der eigenen Familie. Enorme Angst hatten sie vor Betrug, davor, am Ende ganz ohne nichts dazustehen. Die beiden hatten aber Glück, sie wurden von den Herren im Anzug nicht geprellt.
Auf diese Weise erfuhren Liesl und Baptist Einiges aus erster Hand. Unter anderem, dass Argentinien Einwanderer gern ins Land kommen lässt. Sogar eine kostenfreie Weiterfahrt wurde von der Republik Argentinien für gut qualifizierte Handwerker in Aussicht gestellt. Willkommen waren Akademiker und Lehrer, aber ebenso Bauern und Handwerksgesellen. Für Argentinien ging es darum, wertlosen Urwald in besiedeltes Land zu verwandeln.

Das betrachteten Liesl und Baptist als ihre Chance. Als eine Gelegenheit auf ein neues, freieres und erfolgreiches Leben. Und so wie sie dachten alle, die als Auswanderer aus Europa dorthin wollten. Sie alle wünschten sich, selbst etwas zu erschaffen, das eigene Glück zu machen. Und alles sollte anders werden. Vertraut wurde auf die Chancen, und gehofft wurde auf ein Leben, das es hierzulande nicht gab. Diese Auswanderer und künftigen Siedler wurden später auf Spanisch „Pioneros“, „Colonizadores“ oder „Inmigrantes“ genannt.
Baptist und Liesl nannten sich schon in ihrer alten Heimat im Scherz Pionier oder Colonista. Sie stimmten sich ein auf die baldige Heimat. Sie fanden es spannend und aufregend. Baptist war nicht weniger euphorisch als Liesl. Die Aussicht auf den großen Reichtum in Eldorado beförderte beider Vorfreude enorm.
Was braucht es für die Auswanderung? Geld. Wenn es fehlte, dann wurde, wie auch im Steigerwald, geliehen. „Warum sind die weg?“, fragte Baptist die Steigerwald-Verwandtschaft. Die beiden Brüder hatten fort gewollt. Weg von hier. Sie sahen für sich keine Chancen auf ein Vorwärtskommen.
Auch an den Stammtischen im Wirtshaus wurde geschwatzt und viel über das Leben hier und anderswo erzählt. Öfter hörten sie Auswanderergeschichten aus der eigenen Gegend. Gelegentlich kamen auch Auswanderer zu Besuch und zeigten, wie erfolgreich sie jenseits des Atlantiks waren. So etwas stand sogar in der Zeitung, wenn einer zurückkam, und dann seinem Dorf, seiner Schule oder der Kirche etwas zukommen ließ. Solche Schenkungen belegten, dass es sich lohne, wegzugehen und sein Glück anderswo zu suchen.
Die Erfahrungen vom Krieg 1914-1918 und aus der Zeit danach waren wenig aufbauend. Was war damals schon normal? Normal war, man blieb in den Verhältnissen hängen, in die man hineingeboren wurde. Liesl und Baptist wollten Gründe haben für ihr Bleiben. Sie dachten, sie hätten die Wahl. Als Kinder hatten sie das Ende des Krieges im 1918er Jahr mitgekriegt. Armut, Elend, Hunger, Arbeits- und Hoffnungslosigkeit. „Die Hühner haben sie uns aus dem Verschlag raus weggenommen“, sagte Liesl zum Baptist. Und er hat erzählt, wie die Soldaten die Kuh und die Geiß aus dem Stall geführt hätten. Danach hatten sie keine Milch mehr. Die Kuh brauchten sie, damit sie zusammen mit dem Ochsen den Leiterwagen zog. Was sollten sie vor den Pflug spannen?

Darüber hinaus haben die Burschen vom Militär das versteckte Getreide bei ihrer Durchsuchung gefunden. Die Soldaten haben mitgenommen, was den Leuten gehört hat. So war es nach dem Krieg. Man hörte viele solcher Geschichten.
Liesls ‚Herrla‘ daheim, das war der Ehrentitel, der dem Großvater gebührte, wie auch der Vater und die Mutter, die haben gern und viel von früher erzählt, von ihrer Zeit und der ihrer eigenen Eltern. Schlimme Sachen haben die vorstellig gemacht und durchgängig haben sie die Auffassung vertreten, dass die Obrigkeit sich schon immer genommen hätte, was sie brauchte: das Viehzeug, das Saatgetreide, die Männer, die Frauen. So war’s gewesen, vor dem Krieg und während er anhielt selbstverständlich auch.
Kriegsbedingte Einquartierungen hat es gegeben. Vom Waffengang bei Kissingen, Preußen gegen Bayern, hatte der Alte berichtet, und vom Krieg mit den Franzosen 1870 / 71, den die Preußen anzettelten.
Von seinem Großvater wiederum hatte er erfahren, dass vor über hundert Jahren die Franzosen hier in der Umgebung Angst und Schrecken verbreitet hatten, das war 1796 im Juli.

Einhundert Jahre nachdem die ersten Tullys aus Südtirol in die Gegend gekommen waren. Berichtet wurde von Plünderungen und ebenso von Frauenschändungen, Mord und Brand. Steinbach, der Ort, in dem Liesl mit ihrer Familie lebte, wurde angezündet. Verschleppt wurde sogar jemand aus der Familie, und zwar der Ortsschultheiß Tully, der von französischen Soldaten fortgeschleppt wurde und verschollen blieb.
Noch 1806 hätte es hier im Unterfränkischem eine Einquartierung von siebentausend Mann gegeben, was für die kleinen Gemeinden einer kompletten Ausraubung gleichkam. „Der Bestand an Schweinen, Schafen, Kälbern und Vieh war auf ein Minimum gesunken. Hühner waren die Lieblingsspeise der Franzosen, sogar Hunde raubten sie“, erzählte der Großvater, in seinem Lehnstuhl sitzend. Einem Krieg auszukommen, das wäre schon ein Grund wegzugehen.
Der Schuster solle bei seinen Leisten bleiben, sagten die Alten. Was aber, wenn einer gar keine Leisten besitzt, fragte sich Liesl. So war es bei ihr und Baptist unkomplizierter. Sie besaßen nichts, was sie hielt.

Der Baptist, der war der Richtige. Keiner, der nur überlegte und nur darüber klagte, wie abscheulich es hier zuging. Der Baptist hatte Mut und das hatte Liesl gefallen, das hat sie an ihm bewundert. Über die ungünstigen Umstände in der Wirtschaft und der Politik wurde damals viel geredet und ebenso viel geklagt. Nicht zu Unrecht. Es waren schlimme Zeiten. Möglich, dass sie sich deswegen in ihn verliebt hatte. Er hat sie überzeugt. Weggehen war ihr gemeinsamer Beschluss, sie vertrugen sich gut, waren einander vertraut, sie dachten ähnlich. Sie liebten sich! Und, er sah auch gut aus.
Was würde es bringen, in der Heimat zu bleiben, in der es Hunger gab, in der Krawallmacher durch die Straßen zogen und dabei Leute in aller Öffentlichkeit attackierten? Besser etwas Neues wagen, statt zu verzagen. Mühe investieren und die Früchte der Anstrengungen selbst ernten.
Liesl hatte ihn anfangs nur vom Sehen gekannt. Näher lernten sie sich auf dem Tanzboden kennen, im Sommer 1932 oder 1933. Er hatte sie aufgefordert. Sie tanzte immer gern und hatte freudig angenommen. Einen Frankenschädel hatte er, er hatte eine gute Figur gemacht und so sahen sie sich häufiger. Ein regelrechter, also ein guter Tänzer war er nicht gewesen, sagte sie einmal.
„Den langsamen Walzer beherrschte er, aber wenn wir weggingen, mal zum Fasching, mal zur Kirchweih, dann tanzten wir halt, was ihm so gelang. Dazwischen schunkelten wir zu den Liedern, die uns beiden gefielen. „Wir liebten die Schlager unserer Zeit: Es wird in hundert Jahren wieder so ein Frühling sein, Der Onkel Bumba aus Kalumba tanzt nur Rumba und Ja, ja, der Wein ist gut.“ Daran erinnerte sie sich jetzt. Sie hatten das Glück, das sie gesucht hatten, gefunden. Mochten die gleichen Lieder, lachten über die gleichen Scherze. Aber schon damals wusste sie, er sang besser als er tanzte.
Es gab herrliche, irre, freche Gassenhauer und Couplets, etwa von dem Berliner Otto Reutter: „Kinder, Kinder, sorgt für Kinder! … ist doch wirklich kinderleicht“.
Und heute noch kann sie den Schlager von der Frau von Potiphar, die ja ungemein erfahren war, in allen Liebessachen, so Sachen, so Sachen.
Es ging um die Bar zum Krokodil am Nil, am Nil, am Nil, hier verkehrten ganz inkognito, der Josef und der Pharao. „Dort tanzt man nur dreiviertel nackt … Dem Gatten der Frau Potiphar, dem wurde bald die Chose klar. Er sprach zu König Ramses, zu Ramses, zu Ramses. Ich weiß, was meine Gattin macht. Die fährt nach Theben jede Nacht … Ja Majestät, da hamses, da hamses, da hamses. Darauf sagt ihm der Pharao. Dann machen wir es ebenso … Drum geh’n als Philosophen wir auch nach Theben schwofen … In der Bar zum Krokodil, am Nil, am Nil, am Nil“. Den Text kannten beide auswendig. Sie glaubten fest, perfekt zusammenzupassen.
Den Plan für die Auswanderung hatten sie zunächst für sich behalten, dann aber, als es ernst wurde, haben sie ihn Liesls Mutter mitgeteilt, deren Einwilligung sie ja brauchten.
Das war im Sommer 1934. Baptist hatte kurz zuvor ein schönes, künstlerisch gearbeitetes Kruzifix geschnitzt. Es hat an seinem Platz seine beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt: Die Mutter war recht beeindruckt und hielt es ihr Lebtag in Ehren. Es hing im Herrgottswinkel, als Baptist und Liesl auf der Bank in der Stube saßen.
Beide zum Aufbruch entschlossen. Nach viel hin und her kam der Mutter ein „in Gottes Namen, ich will es mir überlegen“, über die Lippen. Das war schon viel. Fast ein Ja.

Je näher die Sache rückte, je konkreter die Pläne wurden, desto schwerer wurde es den Beiden ums Herz. Einerseits hatten sie sich entschieden wegzugehen, aber es wurde ihnen immer klarer: einfach wird das nicht. Sie bekamen Angst und die Courage schrumpfte. Baptist sagte: „Was wissen wir schon? Wer sind wir? Was haben wir in der Hand, um anderswo, weit ab von daheim, etwas Neues zu beginnen? Geld brauchst du, und je weniger du hast, desto mehr Ausdauer braucht es.“ Sie informierten sich, so gut es ging. Die Nachforschungen richteten sich zuallererst auf die Überfahrt. Sie hatten ja keine Ahnung, wie man überhaupt nach Argentinien kommt. Über Hamburg, über Bremen, vielleicht auch über Genua in Italien?
„Mit dem Luftschiff wohl nicht“, sagte Liesl damals. Die fuhren bis nach Südamerika, und zwar innerhalb von drei Tagen, wie die Hamburg-Amerika-Linie versprach.

Später fanden sie heraus, die Schiffe nach Buenos Aires liefen von norddeutschen Häfen aus. Neu war ihnen, dass sie eine Genehmigung brauchten, um ausreisen zu können. Das hieß wohl, nicht alle konnten nach Gusto auswandern. Zusätzlich bedurfte es einer Erlaubnis zur Einreise, auch um die hieß es sich erst einmal zu kümmern.
Fürs Auswandern sprach zudem die damalige Politik. Vieles hatte sich bereits verändert, es gab neue Gesetze. Die ersten Notverordnungen waren erlassen, der Reichstag hatte gebrannt. Um die Wirtschaft stand es nicht gut. Das Ermächtigungsgesetz war beschlossen. Das Durcheinander im Land wuchs. Vorbei war es mit der Aufbruchsstimmung der 1920er. Da gab es viele neue Sachen: andere Filme, andere Musik. Das sahen sogar die Landeier in der Wochenschau im Kino. Klar, was wirklich neu war, wie etwa die Mode oder die Musik, das spielte sich in Berlin ab. Dort lebten die Verrückten, sagte man. Nicht alles war neu. Dafür steht der unschöne Spruch aus Zeit des Bauhauses. “Wo Wolle ist, ist auch ein Weib und Zeitvertreib“ Neu war: Ungelernte wurden angelernt. Seit 1919 gab es das Frauenwahlrecht, Demokratie statt Monarchie. Es war eine Zeit des Aufbruchs und der Neuerung…